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Palästina

 

Blinder Alarm?

 

Uri Avnery, 15.3.03

 

„Warum denken Sie, dass Sharon den amerikanischen Angriff auf den Irak ausnützen wird, um in den besetzten Gebieten eine Vertreibung auszuführen?“ fragte mich ein Journalist, nachdem wir eine Warnung in diesem Sinne in dieser Zeitung veröffentlichten. „Schlagen Sie nicht etwa blinden Alarm?“

Ich hätte ihm eine Liste mit Zitaten von Mitgliedern der jetzigen Regierung geben können, die alle offen die Massenvertreibung der Palästinenser befürworten. Ich hätte Gerüchte zitieren können. Ich hätte ihm erzählen können, dass eine schleichende Vertreibung schon eine ganze Zeit lang im Gange ist, indem man das Leben der Bewohner unerträglich macht, indem man ihre Häuser zerstört, Absperrungen und Ausgangssperren verordnet und Hungersnot zuläßt. Aber ich wollte lieber über Geschehnisse berichten, bei denen ich in der Vergangenheit selbst Augenzeuge war.

Es war 1967, als die israelische Armee die Westbank erobert hatte. Unmittelbar danach kam der Schriftsteller Amos Kenan, der als Soldat im Raum Latrun diente, zu mir. Er legte mir einen Bericht über das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, auf den Schreibtisch. (Ich war zu jener Zeit ein Mitglied der Knesset und der Herausgeber der Zeitschrift Haolam Hazeh – ein Nachrichtenmagazin)

In dem schockierenden Bericht beschreibt Kenan, wie die Bewohner von vier Dörfern im Latrungebiet aus ihren Häusern vertrieben wurden. Männer und Frauen, Kinder und alte Leute waren gezwungen worden, in der erstickenden Hitze von über 30 Grad C nach Ramallah zu laufen – eine Entfernung von etwa 30km. Gleich danach begann die Armee, die Häuser zu zerstören. *1

Ich eilte dorthin. Die vier Dörfer – Imwas, Yalu, Bet-Nuba, Dir Ayub - waren schon fast vernichtet. Ich sah, wie die Bulldozer die letzten Häuser platt walzten. Als ich versuchte, Fotos zu machen, trieben mich die Soldaten weg.

Von dort ging ich direkt zur Knesset und bat ranghohe Personen zu intervenieren. Nachdem sie alle möglichen Leute kontaktiert hatten, sagten sie mir, es wäre zu spät. Der Abbruch der Häuser sei beendet.

Warum gerade diese Dörfer? Warum in solcher Eile? Dieses Gebiet der Westbank bildete (nach Israel hinein) eine Ausbuchtung, die die alte Straße von Tel Aviv nach Jerusalem beherrschte und die 1948 abgeschnitten wurde. Die Regierung war davon überzeugt, dass die Weltgemeinschaft Israel zwingen würde, alle Gebiete, die es besetzt hat, wieder zurück zu geben, wie es nach dem letzten Krieg (im Suez-Krieg 1956) geschah. Sie dachte, wenn die vier Dörfer dem Erdboden gleich gemacht werden, ohne dass eine Spur von ihnen bleibt, wäre es für Israel möglich, wenigstens dieses Gebiet zu behalten.

Es wurde natürlich kein Druck auf Israel ausgeübt, und Israel durfte bis heute im Besitz aller besetzten Gebiete bleiben. Noch immer schmachten die Flüchtlinge in den Lagern bei Ramallah. Auf ihrem Land wurde der „Kanada-Park“ errichtet - zum Ruhme dieses humanistischen und liberalen Landes, das diese Ehre dankbar annahm.

Während die Traktoren im Raum Latrun arbeiteten, geschah etwas Ähnliches in Kalkilya. Nachdem die Stadt erobert war, begann die Armee, systematisch einen zentralen Stadtteil zu sprengen. Die Bewohner waren vertrieben worden und gezwungen, die ca 25 km nach Nablus zu laufen. Dort lagen sie in öffentlichen Parkanlagen herum.

Ich erhielt ziemlich früh diese Nachricht. Ich fuhr hin, um mich zu versichern, dass dies wahr ist und ging wieder zur Knesset und schnappte mir einige Minister, einschließlich Menahem Begin, der gerade zum Minister ohne Geschäftsbereich ernannt worden war, und Israel Barzilei, den Mapam-Minister für Gesundheit. Ich fand einige ranghohe Abgeordnete, die die Nachricht direkt an den Ministerpräsidenten, Levy Eshkol, weitergeben konnten.

Ich weiß nicht, ob dies geholfen hat. Aber die Zerstörung wurde sofort gestoppt. Den Bewohnern wurde es erlaubt, zurückzukehren, und der Stadtteil wurde wieder aufgebaut.

Warum Kalkilya? Weil diese von allen Westbankstädten Tel Aviv am nächsten lag. Von einem Hügel nahe der Stadt hatte jordanische Artillerie den Großstadtraum von Tel Aviv beschossen. Der damalige Verteidigungsminister, Moshe Dayan, wollte die Grenze hier begradigen.

Jahre später erfuhr ich, dass zur selben Zeit im benachbarten Tulkarem die Vertreibung auch begonnen hatte. Ra’anan Lurie, der berühmte Karikaturist, der zu jener Zeit ein Armeeoffizier war, war in dem Augenblick dort, als der Befehl zur Vertreibung nach Jordanien gegeben wurde. Obwohl er ganz und gar kein Linker war, verweigerte er den Befehl, den er als offenkundig illegal betrachtete. Trotzdem wurden Busse gebracht und die Einwohner gezwungen, einzusteigen. Sie wurden direkt zur Jordanbrücke gebracht und nach drüben getrieben. Lurie bestätigte dies später.

Die bei weitem größte Vertreibung dieses Krieges aber fand in Aqabat-Jabr und den andern großen Flüchtlingslagern von 1948 in der Nähe Jerichos statt. Es waren die größten Lager im Nahen Osten. Sie wurden vollständig geräumt – bis zum letzten Mann wurden sie ins nahe Jordanien vertrieben. In jenen Lagern waren mindestens hunderttausend Flüchtlinge. Als ich sie unmittelbar nach dem Krieg besuchte, waren sie wie Geisterstädte.

Nach dem Krieg versuchten einige dieser Flüchtlinge, nachts heimlich den Jordan zu überqueren. Eines Tages kam ein Soldat – offensichtlich verstört - zu mir ins Büro und erzählte mir, dass all diese Flüchtlinge gefangen genommen und auf der Stelle erschossen wurden. Ich bat ihn darum, eine eidesstattliche Versicherung zu unterschreiben, die ich dem Generalstabschef, Yitzhak Rabin, zusandte. Sein Adjutant bestätigte, dass der Generalstabschef das Dokument gelesen habe. Ein oder zwei Tage später hörte das Morden auf. *2

Ich hatte noch ein entsetzliches Erlebnis. Nach dem Besuch der Flüchtlingslager, fuhr ich in der glühenden Hitze des Jordantales auf der steilen Straße von Jericho nach Jerusalem zurück. Das Thermometer näherte sich der 40 Grad Marke. Hunderte von staubbedeckten Leuten schleppten sich auf dieser Straße in Richtung Jerusalem. Man hatte sie unter Drohung und mit Gerüchten über bevorstehende Gräueltaten dazu gebracht, aus Jerusalem und Bethlehem nach Jordanien zu fliehen. Aber bevor sie den Jordan überquerten, erlaubte man ihnen, zurückzukehren. Unter ihnen waren Frauen, die auf dem Kopf schwere Lasten trugen, Kleidung, Decken, Küchenutensilien und kleine Kinder mit sich zogen. Alte Leute humpelten mit Hilfe von Stöcken. Die meisten waren vor Müdigkeit und Durst der Ohnmacht nahe. Wir taten, was wir konnten und brachten ihnen Trinkwasser. Es war schrecklich.

Nach verschiedenen Schätzungen waren es zwischen 100 und 260tausend Palästinenser, die während der sog. „kleinen Nakbeh“ vertrieben wurden. In Oslo (1993) war man überein gekommen, dass ein gemeinsames israelisch-palästinensisch-ägyptisch-jordanisches Komitee Mittel und Wege finden würde, damit sie wieder zurückkehren könnten. Aber dieses Komitee wurde niemals zusammengerufen.

General Matti Peled erzählte mir einmal, dass vor dem Krieg, als er Kommandeur des Jerusalem-Distriktes war, er bei seinem Personalstab zwei Offizieren begegnete, die ihm unbekannt waren. Als er sie befragte, eröffneten sie ihm, dass sie zu einer geheimen Einheit gehören, die für eine etwaige nächste Gelegenheit eine Massenvertreibung vorbereitete. Peled jagte sie natürlich im hohen Bogen hinaus.

Im Krieg von 1956 fand keine Vertreibung statt, weil der Krieg nur gegen Ägypten war. Während des 1973 Krieges hatte keiner Zeit, daran zu denken. Im Libanonkrieg hatte Israel keine Pläne für Annexionen.

In keinem vorhergehenden Krieg hatte Israel eine Regierung, dessen Minister öffentlich über Massenvertreibung debattierten. Wenn ein „Trennungszaun“ gebaut wird, der mehrere palästinensische Dörfer zwischen diesem und Israel isoliert liegen lässt, fürchten Palästinenser natürlich, dass sie aus diesen Dörfern vertrieben werden. Sie fürchten außerdem, dass benachbarte Städte und Dörfer östlich der Mauer auch geräumt werden.

 

Kann ich Palästinenser beruhigen, dass ihre Befürchtungen unbegründet sind?

 

(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

*1 Der vollständige Bericht von Kenan  kann nachgelesen werden in „Die Kinder von Bethlehem“ Rohlfs-Muhaisen, S.59 ff

*2 s. im selben Buch S.61